»Aus der Freude am Gestalten und am Umgang mit Gegensätzen«, so beschrieb Erwin Sommer anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg am 25. Oktober 2002 seine Handlungsmaxime. Geehrt wurde er damals für seine Verdienste beim Aufbau der Außenstelle des Fraunhofer IWM in Halle und der Kooperation mit der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Über 20 Jahre später, am 31. März 2023, wurde Erwin Sommer vom Deutschen Verband für Materialforschung und -prüfung e. V. (DVM) mit der Ehrenmitgliedschaft ausgezeichnet. Damit wurden Sommers Leistungen für den Verband und seine Verdienste um die Etablierung der Bruchmechanik als materialwissenschaftliches Forschungsgebiet in Deutschland gewürdigt. Die Bruchmechanik entwickelte sich in den 60er und 70er Jahren zum Konzept schlechthin für die Aufklärung von rissbedingten Schadensfällen in Bauteilen und die Bewertung der Bauteilsicherheit. Den Stand der Forschung voranzutreiben und für die Anforderungen der Industrie verwertbar zu machen, waren sein Ansporn.

Dieser Anspruch war gleichermaßen wegbereitend für die Entstehung und das florierende Wachstum des Fraunhofer-Instituts für Werkstoffmechanik IWM in Freiburg, dessen 50-jähriges Bestehen 2021 im Beisein von Erwin Sommer gefeiert wurde und dessen Entwicklung er von 1977 bis 2001 als Institutsleiter prägte. Ausgehend von der Erforschung von Bruchvorgängen in Gläsern in den 1960er Jahren wurden viele neue industriell relevante Anwendungsgebiete für werkstoffmechanische Lösungen erschlossen, wie z.B. das Hochtemperaturverhalten von Kraftwerkskomponenten, Fertigungstechnologien für Glas, die Crashsicherheit oder die Tribologie.

Bereits vor der deutsch-deutschen Wiedervereinigung pflegte das Fraunhofer IWM wissenschaftliche Beziehungen zum damaligen Institut für Festkörperphysik und Elektronenmikroskopie der Akademie der Wissenschaften in Halle. Im Zuge der Neuausrichtung der ostdeutschen Forschungslandschaft entstand dort 1991 eine Außenstelle des Fraunhofer IWM mit zunächst 16 Mitarbeitenden, aus der nach kontinuierlichem Wachstum 2016 das eigenständige Fraunhofer IMWS hervorging. Mit sehr viel Fingerspitzengefühl, Geschick und persönlichem Einsatz hat Erwin Sommer den erfolgreichen Aufbau dieses Schwesterinstituts in Halle gestaltet und die dortigen Forschungsaktivitäten in das Fraunhofer-System überführt. Mit der Integration der unterschiedlichen Kulturen in Freiburg und Halle innerhalb des Fraunhofer IWM hat Erwin Sommer eine Erfolgsgeschichte für das Zusammenwachsen von Ost und West geschrieben.

Auch die Fraunhofer-Gesellschaft profitierte von Sommers besonnener, weitsichtiger und zielgerichteter Art, als er in den 1990er Jahren die werkstofftechnologisch ausgerichteten Fraunhofer-Institute für die Gründung des ersten Fraunhofer-Institutsverbundes gewann und diesen gemeinschaftlich aus der Taufe hob. Bis heute ist der Verbund MATERIALS eine tragende Säule der Fraunhofer-Gesellschaft. Als Vorsitzender des Wissenschaftlich-Technischen Rats der Fraunhofer-Gesellschaft war er gefragter Moderator und Impulsgeber an der Schnittstelle zwischen den Institutsleitungen und dem Vorstand.

Prof. Peter Gumbsch, der 2001 die Institutsleitung des Fraunhofer IWM von Erwin Sommer übernahm, würdigte sein Lebenswerk: »Prof. Sommer hat nicht nur die Bruchmechanik als wissenschaftliche Disziplin in Deutschland eingeführt, sondern mit dem Aufbau des Fraunhofer IWM auf dieser Basis gezeigt, wie die grundlagenorientierte Werkstoffforschung von industriellen Bedarfen inspiriert wird und mit den Forschungsergebnissen industrieller Nutzen geschaffen wird. Erwin Sommer hat das Fraunhofer-Modell verkörpert und gelebt. Das Wohl seines Instituts lag ihm bis ins hohe Alter stets am Herzen. Wir verabschieden uns mit Dankbarkeit und Hochachtung von einem Fraunhofer-Vorbild, einem klugen Vordenker, einem geschätzten Ratgeber und einem inspirierenden Menschen.«

Nachruf des Fraunhofer IMWS auf Prof. Dr. Erwin Sommer