Welchen Stellenwert hat die Tribologie aktuell in der Wertschöpfung?
Scherge: Die Vokabeln »Tribologie« sowie »Reibung« oder »Verschleiß« verstecken sich zunehmend in der Entwicklung und Verbesserung von gesamten Systemen. Für uns heißt das, dass sich unsere tribologische Forschung neu definieren und positionieren muss, und zwar in einem größeren Kontext. Wo bislang unsere Fachkenntnisse für punktuelle Lösungen zu Rate gezogen wurden, rücken in einer zunehmend holistischen Herangehensweise tribologische Fragestellungen als Teillösung in den Vordergrund. Das stellt uns vor eine Herausforderung, da wir nun antizipieren müssen, wo unsere Expertise am ehesten gefragt sein wird und dementsprechend vermehrt Partnerschaften eingehen werden.
Moseler: Das Wichtigste ist, den Wandel als Chance zu begreifen. Hierbei hilft es enorm, nahe am Kunden zu sein. Wir demonstrieren mit marktnaher Forschung, wie die Tribologie als zentraler Hebel die Funktion und die Energieeffizienz von Maschinen und Antrieben verbessert. Beispielsweise hängt die Einführung alternativer Brennstoffe vom genauen Verständnis von Reibungs- und Verschleißmechanismen ab. Uns treibt, fortwährend neue Herausforderungen zu lokalisieren. Die kreative Reibung in unseren Kundengesprächen setzt hier eine enorme wertschöpfende Energie frei.
Bergen solche Entwicklungen Risiken oder Chancen für das Feld Tribologie?
Moseler: Die Tribologie ist eine Königsdisziplin in der Materialforschung. Ihre inhärente Multiskaligkeit und unser integraler Ansatz, Werkstoffe an ihren Grenzen zu begreifen, und das unter den dynamischsten Bedingungen – all das macht die Tribologie zu einer höchst wandelbaren Systemwissenschaft. In unserem Forschungsalltag am Fraunhofer IWM gelingt uns nach wie vor der kunstvolle Spagat zwischen Kundennähe und hohem akademischen Anspruch. Diese Stärke erst macht es uns möglich, so viele Kooperationen mit Unternehmen einzugehen, die nicht nur von unserer Expertise profitieren, sondern auch für unsere Forschung neue Felder erschließen lässt. Nehmen wir als Beispiel den Verbrennermotor: Ein signifikanter Teil unseres Geschäfts war lange Zeit darauf ausgelegt, Fragestellungen in diesem Bereich anzugehen. Heute sind Elektroantriebe oder Wasserstofftechnologien auf dem Vormarsch mit aus tribologischer Sicht spannenden aber auch komplexen Herausforderungen. Auf der geschäftlichen Seite bauen wir hier viele neue Kundenbeziehungen auf. Schließlich sehnen wir uns als Forschende bei Fraunhofer auch nach sinnstiftender Arbeit. Wollen wir nicht alle die Welt ein stückweit besser verlassen, als wir sie vorgefunden haben?
Es liegt also ein unausgeschöpftes Potential im Zeitenwandel?
Scherge: Absolut. »Umweltverträglichkeit« ist ein großes Stichwort, das uns umtreibt. Wir sind dazu angehalten, Lösungen zur Nachhaltigkeit und Energieeffienz zu leisten. Ende 2023 wurde zum Beispiel ein handliches Messgerät zur Detektion von schädlichen PFAS-Verbindungen mit dem Lothar Späth-Award ausgezeichnet, welches in einer Entwicklungkooperation zwischen dem MikroTribologie Centrum μTC und der Firma Kompass GmbH entstand. Am Fraunhofer IWM haben wir das Alleinstellungsmerkmal, dass wir mit unserer Forschung nicht nur für Kunden gut sichtbar sind, sondern auch sehr gut mit wissenschaftlichen Forschungsgruppen auf internationaler Ebene konkurrieren können. Für die Erschließung zukünftiger Forschungsschwerpunkte unter dem Gesichtspunkt der Energiewende bietet uns das einen großen Vorteil. Auch hinsichtlich der Fragen, die mit dem Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur aufkommen, sind Expertisen aus dem Bereich der Tribologie unabdingbar. Unsere Lösungsansätze zur Reibungsminderung und dem Verschleißschutz für Lager, Dichtungen und Antriebssysteme zahlen ein auf die Sicherheit von Systemen, die mit Wasserstoff betrieben werden.
Moseler: Zusätzlich zeigt unsere Forschung im Bereich der superniedrigen Reibung, der sogenannten Supraschmierung, dass wir einen richtigen Weg zur Energieeffizienz eingeschlagen haben, und das mit großem Erfolg. Die Supraschmierung ist der Schlüssel schlechthin, um technische Systeme effizienter zu gestalten. Im Fraunhofer-internen PREPARE-Projekt »SUPRASLIDE« wird zum Beispiel daran geforscht, wie makroskalige Supraschmierung über lange Zeit stabil bleibt. Solche Erkenntnisse zur Anwendungsreife zu bringen, liegt nicht nur im Interesse der Fraunhofer-Gesellschaft, sondern sehen wir auch als unsere eigene gesellschaftliche Verantwortung.