Wissenschaftspreis des Stifterverbandes 2022

© Fraunhofer, Foto: Uwe Böhm
Die »virtuelle Reibspaltsonde« hilft, atomare Vorgänge im Reibspalt »sichtbar« zu machen. V.l.n.r. Prof. Dr.-Ing. Reimund Neugebauer, Präsident der Fraunhofer- Dr.-Ing. habil. Joachim Otschik von der EagleBurgmann Germany GmbH & Co. Gesellschaft; Prof. Dr. Michael Moseler, Gruppenleiter Multiskalenmodellierung und Tribosimulation am Fraunhofer IWM; Prof. Dr. Matthias Scherge, Geschäftsfeldleiter Tribologie am Fraunhofer IWM

Die Entwicklung der »virtuellen Reibspaltsonde« erhält den Wissenschaftspreis des Stifterverbandes 2022

 

Ein Team aus Forschung und Industrie hat eine erhebliche Verbesserung für diamantbeschichtete Gleitringdichtungen erreicht. Die »virtuelle Reibspaltsonde« kombiniert Simulationen auf mehreren Größenskalen mit realen Experimenten und ermöglicht so, quasi während des Gleitens in den Reibspalt hineinzusehen. Das ist weltweit einzigartig.

Für die Entwicklung der »virtuellen Reibspaltsonde« erhalten Prof. Dr. Michael Moseler und Prof. Dr. Matthias Scherge vom Fraunhofer IWM den Wissenschaftspreis des Stifterverbandes 2022. Als Dritter im Bunde wird Dr.-Ing. habil. Joachim Otschik von der EagleBurgmann Germany GmbH & Co. ausgezeichnet. Insbesondere die langjährige gemeinsame Forschungsarbeit des Trios, die die Entwicklung der Sonde begleitete und zum Verständnis der Reibungsphänomene in den Gleitringdichtungen führte, überzeugte die Jury.

Link zur Pressemeldung

 

Preisträgerfilm:
»Nahezu reibungslos...«

Making of - Preisträgerfilm:
»Nahezu reibungslos...«

Wo werden Gleitringdichtungen benutzt?

Gleitringdichtungen sind allgegenwärtig in Systemen, die Flüssigkeiten pumpen und dabei abdichten müssen. Zum Beispiel in Maschinen, die Trinkwasser oder Brauchwasser pumpen, in Auto-Kühlsystemen oder Klimaanlagen, in der Nahrungsmittelindustrie für Rührwerke, in der Medizin für Zentrifugen oder in der Energieerzeugung bei Wasserturbinen. Immer haben sie die Aufgabe, die rotierende Pumpenwelle gegen das statische Pumpengehäuse abzudichten. Dabei werden die zwei aufeinander gleitenden Flächen durch Federkraft gegeneinander gedrückt.

 

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Diamantbeschichtete Gleitringdichtungen sollten optimiert werden.

Was war das Problem und die Herausforderung?

Der Leiter der Abteilung „Research & Development“ von EagleBurgmann, Dr.-Ing. habil. Joachim Otschik, stand vor der Herausforderung, für einen Kanadischen Kunden eine ganz besondere diamantbeschichtete Gleitringdichtung zu konstruieren: Sie sollte vollständig dicht sein, nur Wasser als Schmiermittel benötigen, immer wieder die Drehrichtung ändern können und dies nahezu verschleißfrei und mit ultrakleiner Reibung. 

An den Prototypen der Gleitringdichtung trat jedoch unerklärlich hohe Reibung auf. Mit der Frage, warum immer wieder und plötzlich hohe Reibung auftrat, wandte sich Joachim Otschik an das Fraunhofer IWM.

 

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Mit der virtuellen Materialsonde ist es möglich, aufs Atom genau in den Reibspalt »hineinzusehen« - beispielsweise bei mit Diamant (grau) beschichteten Gleitringdichtungen, die einen hauchdünnen Wasserfilm (rot-weiß) als Schmierstoff nutzen.

Wie hat die »virtuelle Reibspaltsonde« des Fraunhofer IWM geholfen?

Die »virtuelle Reibspaltsonde« kombiniert die Ergebnisse realer Experimente mit Simulationen auf mehreren Größenskalen. Damit macht sie es möglich, quasi während des Betriebs der Gleitringdichtung in den ansonsten undurchdringlichen Reibspalt »hineinzusehen«. Während der Bewegung können damit Reibung und Verschleiß beobachtet werden. Das ist weltweit einzigartig in dieser Form.

Die Computermodelle machen wichtige Größen wie Bindungsorbitale von Elektronen, Bahnen von Atomen, Materialveränderungen oder Deformation von Rauheiten beobachtbar.

Die Erklärung wurde mit der »virtuelle Reibspaltsonde« gefunden

Beim Ändern der Drehrichtung steht für einen winzigen Moment die Gleitringdichtung still. Dabei »verbacken« die Atome der beiden Reibpartner miteinander, es entsteht die sogenannte Kaltverschweißung. Die so verbackenen Atome lösen sich nur mühsam wieder, sobald die Drehung in der anderen Richtung weitergeht. Damit sorgen sie in diesem Moment für einen hohen Reibwiderstand.

 

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Simulation des »Verbackens« und »Lösens« der Atome im Reibspalt.

Wofür ist das nützlich?

Die Ergebnisse erklärten nicht nur erstmals das Problem, sondern versetzten EagleBurgmann in die Lage, eine weltweit einmalige technisch stabile Lösung zu entwickeln. Dabei wurden auf einem Reibpartner »atomare Sollbruchstellen« eingebaut, die das Kaltverschweißen und die damit einhergehenden hohen Reibwerte verhindern.

Die Erkenntnisse durch die »virtuelle Reibspaltsonde« helfen, den weltweiten Energieverbrauch zu senken

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Etwa 23 % des weltweiten Gesamtenergieverbrauchs (!) werden für mechanische Kontakte benötigt: in Fortbewegungsmitteln, Produktionsanlagen, Maschinen des täglichen Gebrauchs und vielem mehr. Reibung, Verschleiß und Schmierung sind hierbei für den Energieverbrauch sehr bedeutend. Stellt die Technik hier ideale Bedingungen ein, kann enorm viel Energie gespart werden. Auch kleine Verbesserungen können enorme Energiesparpotenziale bedingen, denn bei der hohen Anzahl von Anwendungen summieren sich kleine Verbesserungen zu großen Effekten.

 

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Darstellung der Größenskalen, die mithilfe der virtuellen Reibspaltsonde untersucht und betrachtet werden können.

Wie geht es weiter?

Mit der virtuellen Materialsonde können die Tribologinnen und Tribologen des Fraunhofer IWM vielfältige Reibpaarungen »im laufenden Betrieb« untersuchen und Verbesserungsmöglichkeiten aufdecken. Im Bereich der nachhaltigen Wirtschaft sind hier viele Fragestellungen zu erwarten, beispielsweise für Bauteile im Bereich der Energieerzeugung aus regenerativen Quellen, bei der Nutzung von E-Mobility oder zur Nutzbarmachung von Wasserstoff als Energieträger.

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Verleihung des Stifterverbandspreises 2022 auf der Jahrestagung der Fraunhofer-Gesellschaft: v.l.n.r. Prof. Dr. Sophie Hippmann, Direktorin Innovations- und IP-Management der Fraunhofer-Gesellschaft; Prof. Dr. Michael Moseler, Gruppenleiter Multiskalenmodellierung und Tribosimulation am Fraunhofer IWM; Prof. Dr. Matthias Scherge, Geschäftsfeldleiter Tribologie am Fraunhofer IWM; Laudator Dr. Volker Meyer-Guckel, Generalsekretär des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft; Prof. Dr.-Ing. Reimund Neugebauer, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft

Stifterverbandspreis 2022

 

Stifterverbandspreis 2022 für das Projekt »Die virtuelle Materialsonde für Reibspalte als Werkzeug zur Auslegung von diamantbeschichteten Gleitringdichtungen«, verliehen auf der Jahrestagung der Fraunhofer-Gesellschaft am 19. Mai 2022 im Curio-Haus Hamburg, an Prof. Dr. Michael Moseler und Prof. Dr. Matthias Scherge vom Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik IWM sowie an Dr.-Ing. Joachim Otschik von der EagleBurgmann Germany GmbH & Co. KG.

Der Stifterverband vergibt alle zwei Jahre gemeinsam mit der Fraunhofer-Gesellschaft den mit 50 000 Euro dotierten Preis. Dieser zeichnet wissenschaftlich exzellente Verbundprojekte der angewandten Forschung aus, die Fraunhofer-Institute gemeinsam mit der Wirtschaft und/oder anderen Forschungsorganisationen bearbeiten.

Im Stifterverband haben sich rund 3000 Unternehmen, Unternehmensverbände, Stiftungen und Privatpersonen zusammengeschlossen, um Wissenschaft und Bildung gemeinsam voranzutreiben. Mit Förderprogrammen, Analysen und Handlungsempfehlungen sichert der Stifterverband die Infrastruktur der Innovation: leistungsfähige Hochschulen, starke Forschungseinrichtungen und einen fruchtbaren Austausch zwischen Wirtschaft und Wissenschaft. Der Stifterverband ist eine renommierte Stimme der Wirtschaft in der Wissenschaft und ein wichtiger Partner der Politik, für die Bereiche Wissenschaft und Bildung. Der Stifterverbandspreis wird seit rund 15 Jahren vergeben.

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